Leseprobe: Wolfgang Gerts, Predigterzählungen - Erzählpredigten


Texte für die Gottesdienste im Kirchenjahr mit Kasualien

Spannende, heitere und nachdenkliche Texte für Predigten und Andachten

 

34       Brot für die Menge

 

Kirchentag in Hannover. Auf dem Gelände eines ehemaligen KZs steht das Ökumenische Friedenszentrum Mühlenberg. Einen ganzen Tag hatten wir dort auf einem multikulturellen Fest verbracht, uns war nun danach, hier auch das Feierabendmahl zu besuchen, das am Freitag in allen hannoverschen Kirchen gefeiert wurde. Wir saßen in einem großen Saal, aus dem man mit wenigen Handgriffen alle mobilen Zwischenwände entfernt hatte. Während der Gottesdienst schon begonnen hatte, strömten immer noch Menschen hinein, schoben sich weiter zusammen, nutzten die letzte Treppenstufe aus, jeden Gang, jeden Flur. Vermutlich war es in der Geschichte dieses Hauses noch nie so voll gewesen. Kurz vor dem Abendmahl herrschte am Podium Unruhe. Durch das Mikrofon hörten wir einen Satz, der offensichtlich nicht für uns bestimmt war: "Wir haben zu wenig Brot!" - Aus der Menge flog ein Baguette in Richtung Altar. Es wurde aufgefangen. Plötzlich wurde von allen Seiten Brot weitergereicht. Das Abendmahl konnte beginnen. Es war mehr als genug da.

 

WG

 

45       Bete und arbeite

 

Einige Fischer waren draußen beim Fang gemeinsam in einem Boot. Da kam ein heftiger Sturm auf. Sie fürchteten sich so sehr, dass sie die Ruder wegwerfen wollten. Nur ein alter Fischer konnte das verhindern und sammelte die Ruder ein. Die anderen fielen auf die Knie und flehten den Himmel an, er möge sie retten. Doch das Boot wurde immer weiter abgetrieben. - Da sagte schließlich der alte Fischer: "Dummköpfe seid ihr! Warum habt ihr die Ruder weggeworfen?"

 

Zu Gott beten und zum Ufer rudern, beten und arbeiten, nur beides zusammen hilft. Also: An die Ruder!"

 

Herkunft unbekannt

 

63       Über die Leute hier

 

Zu einem weisen Mann kam ein Fremder, um sich in dessen Stadt niederzulassen. Der Fremde fragte: "Was für Leute wohnen hier?" Der Weise aber wollte zuerst wissen: "Was für Leute wohnen in deiner Heimatstadt?" - "Ach, unfreundliche und egoistische Menschen!" antwortete der Fremde. "So", entgegnete der Weise, "die gleiche üble Sorte wohnt auch hier."

 

Wenig später kam ein anderer zu ihm mit derselben Frage. Auch diesem wurde zuerst die Gegenfrage gestellt: "Was für Menschen wohnen in der Stadt, in der du bisher wohntest?" Dieser Fremde entgegnete: "Ich ziehe nur ungern hierher. denn dort wohnen sehr liebenswürdige Menschen." Da beruhigte ihn der Weise: "Mach dir keine Sorgen! Solch prächtige Menschen warten auch hier auf dich."

 

Herkunft unbekannt

 

69       Das Lenkrad

 

Ein afrikanischer Christ unterhielt sich während einer Autofahrt mit seinem Missionar. Dabei erfand er ein Gleichnis. "Wissen Sie, bwana, mit den Christen ist das wie mit so einem Auto." -  "Wie kommst du darauf", fragt der Missionar, "erzähl." -  "Nun, bwana, für die meisten Leute ist der Glaube so eine Art Ersatzrad. Sie führen es mit, aber sie brauchen es nicht. Es sei denn, es gibt mal eine Panne, dann erinnern sie sich daran. Wenn es den Menschen nicht gut geht, dann erinnern sie sich an ihren Glauben." -  "Und was", fragte der Missionar, "sollte der Glaube deiner Meinung nach sein?" - "Das Lenkrad natürlich, bwana, das Lenkrad!"

 

Herkunft unbekannt

 

88       Streik im Klavier

 

"Wir machen das nicht mehr mit, tönten die weißen Tasten, "Schwarze Tasten raus! Wir brauchen euch nicht!" - "Was haben wir euch denn getan?" fragte leise eine der schwarzen Tasten, "machen wir uns nicht schon dünn genug?" - "Ihr habt uns nichts getan. Ihr seid schwarz, und wir sind weiß, das passt nicht zusammen. Wir wollen unter uns sein. Wenn ihr nicht freiwillig geht, treten wir in den Streik." - "Und außerdem," fügte eine weiße Taste hinzu, "billiges Holz und echtes Elfenbein passen auch nicht gut zusammen. Wir haben Werte zu vertreten." - "Aber," gab eine schwarze Taste zu bedenken, "wir sind immerhin aus Palisander, das ist auch wertvoll." - "Papperlapapp", fuhr eine weiße Taste dazwischen. "Ihr engt uns ein. Ohne euch hätten wir viel mehr Platz auf der Klaviatur. Seht euch das doch an: Überall sind wir eingeschnitten. Für beide ist hier kein Platz." - "Moment mal, Jungs," mischte sich da eine alte Saite aus dem Bassbereich ein, "wir kriegen miteinander 12 Dur-Tonarten zusammen und zwölf Moll-Tonarten und vieles mehr. Wenn ihr die Schwarzen rausschmeißt, geht nur noch C-Dur, nicht einmal a-moll wird vollständig sein. Ist euch das nicht ein bisschen eintönig?" - "Na und," entgegnete die weiße Taste, die zu dieser Saite gehörte, Dur heißt hart, und wir bleiben hart. Schwarze raus!"

 

Alles Argumentieren half nichts. Die Schwarzen wurden vertrieben, und die Weißen hatten endlich mehr Platz. Nur: Bald wollte niemand mehr das Klavier hören, es war zu eintönig geworden. Es konnte keine gute Musik mehr machen. Bald stand es nur noch unbeachtet und verstaubt in einer Ecke herum.

 

WG, nach einer Idee von Claudio Steinert

 

96       So entstehen Nationalitätenkonflikte

 

Mit Stefan fahren wir zwei Jahre nach seiner Adoption wieder an seinen Ursprungsort zurück in ein fremdes Land. Hat er wohl schon alles vergessen? Wir besuchen das Kinderheim. Stefan ist umgeben von einer Traube neugieriger Kinder, die meisten sind genau so braun wie er. Das muss sie wahnsinnig interessieren, ein Junge, der so aussieht wie sie, und sich trotzdem durch die feine Kleidung, die Agilität und vielleicht manches andere von ihnen unterscheidet. So können wir immer sehen, wo Stefan sich befindet: mitten in der Traube, die sich über den ganzen Hof mal hierhin, mal dorthin bewegt. Doch mittendrin kommt er angeschritten und erklärt Tina: "Die Kinder sind böse." Warum denn, will Tina, seine Mutter, wissen. "Ach, die reden alle so komisch, dass man sie nicht verstehen kann. Ich gehe jetzt hin und haue sie alle!" Spricht's und verschwindet wieder.

 

Ist das nicht der klarste Ausdruck der Ursache aller Konflikte zwischen feindlichen Nationalitäten, zwischen Nationalisten und fremden Rassen, bei allen, die diejenigen hassen müssen, die anders sind?

 

WG, aus: Wolfgang Gerts, Unsere kleine Rumänenbande, Burgdorf 2003

 

101     Grühße schreibt man ohne "h"

 

Meine Tochter zeigt mir ihren ersten Brief, den sie selbst geschrieben hat. Sie strahlt, und sie ist stolz. Sie blickt mich erwartungsvoll an, und was tue ich Dämlack? - Ich überfliege ihn und sage: Da hast du aber noch einen Rechtschreibfehler. Grühße schreibt man ohne "h". Sie geht raus, und ich bekomme noch gerade mit, wie sie mit den Tränen kämpft. Dabei sind Eltern doch zum Loben da. "

 

WG